Stuttgarter Appell anlässlich der 500ten Montagsdemo zu S 21 am 3.2.2020
Die beiden bei der 500ten Montagsdemo präsenten Hauptredner
Prof. Dr. Hermann Knoflacher von der TU Wien
Prof. Dr. Heiner Monheim von der Universität Trier
von links Prof. Knoflacher, Hannes Rockenbauch (Moderator), Prof. Monheim
haben den versammelten Demonstranten und der anwesenden Presse folgenden
„Stuttgarter Appell“
überreicht, den sie an die hauptverantwortlichen Akteure des Projekts S 21 richten, nämlich an
Herrn Ministerpräsidenten Kretschmann
Herrn Verkehrsminister Hermann
Herrn Oberbürgermeister Kuhn
Herrn Bahnvorstandvorsitzenden Lutz
Herrn Vorsitzenden der Region Stuttgart, Thomas Bopp
Frau Regionaldirektorin Nicola Schelling
Frau Präsidentin der IHK Region Stuttgart, Frau Marjoke Breuning
Sehr geehrter Verantwortliche für das Projekt Stuttgart 21,
uns beide in Sachen Verkehrswende ausgewiesenen Professoren, die seit über 50 Jahren die Verkehrsentwicklung europäischer Regionen vergleichen, veranlasst die Sorge um
• die Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Bahnknotens
• die weitere Verkehrsentwicklung der Region Stuttgart mit immer noch viel zu viel Autoverkehr
• die extreme klimapolitische Belastung des Stuttgarter Talkessels
• die extrem angespannte Wohnungsmarktlage der Region Stuttgart
zu folgendem Appell:
- Oberirdische Schienenkapazität erhalten: Die überirdische Schienenkapazität des HBF Stuttgart und seiner Zulaufstrecken muss erhalten bleiben, weil die Tunnelkapazität nicht ausreichen wird, um allein mit den 8 Tiefbahnhofgleisen den Deutschlandtakt zu ermöglichen. Vor allem dem regionalen Schienenverkehr, der in der Gesamtmenge des Schienenverkehrs im Südwesten entscheidend ist, drohen massive Engpässe. Vor allem die Zuverlässigkeit und Netzflexibilität sind ohne oberirdische Gleise gefährdet. Daher ist eine Umplanung für den Erhalt oberirdischer Gleise dringend geboten und kostengünstig machbar. Das sind Politik und Bahn auch der einzigartig großen und ausdauernden Bürgerbewegung unter dem Motto „oben bleiben“ schuldig für eine allmähliche Befriedung der verhärteten Fronten.
- Baulandreserven mobilisieren durch Um- und Rückbau von Straßen und Parkplätzen: Ersatzweise für die damit wegfallenden städtebaulichen Entwicklungsflächen müssen und können bisherige Verkehrsflächen im Hauptverkehrsstraßennetz und dessen vielfach überdimensionierten Kreuzungen sowie den überdimensionierten öffentlichen Parkierungsflächen gewonnen werden. Neben der Funktion als Bauland können diese Flächen teilweise auch als Baumstreifen für neue Alleen und als Platz für Fuß- und Radverkehr genutzt werden. Diese Strategie bietet einen doppelten Effekt: sie reduziert die übermäßig Kfz-Verkehr erzeugenden Hauptverkehrsstraßen- und Parkraumkapazitäten auf das unabdingbare Mindestmaß und sie stellt kostenlos Bauland für kleinteiligen öffentlichen Wohnungsbau zur Verfügung, der endlich wieder in zentralen Lagen preiswertes Wohnen ermöglicht. Damit wird in doppelter Weise Verkehrsvermeidung praktiziert. Und die intensivierte Stadtbegrünung befreit Stuttgart aus seinem Hitzestau und Emissionsdilemma. Ein solcher Um- und Rückbau von entbehrlichen Kfz-Verkehrsflächen kann massiv zur Verkehrswende in Stuttgart beitragen, durch die positiven Effekte der Nachverdichtung und Kapazitätsreduzierung und besseren städtebaulichen Integration der Hautverkehrsstraßen und ihrer Kreuzungen.
- Klimapolitisch wichtige Freiflächen des Gleisfeldes erhalten: Der Erhalt des Gleisfeldes im Zulauf zum HBF bietet zudem gute Chancen, diese klimapolitisch wichtigen unversiegelten Fläche durch Nebenflächenbegrünung und grüne Rasengleise als Hitzepuffer zu aktivieren.
- Demokratie stärken: Die weltweit einmalig Beharrlichkeit des Bürgerprotestes mit mittlerweile 500 Montagsdemos hat bislang leider noch nicht zu einer konstruktiven Konfliktbeilegung seitens der Projektverantwortlichen geführt. Ohne ein kompromissbereites Entgegenkommen droht weiterhin eine tiefe Spaltung der Bevölkerung. Dafür muss der Spielraum ausgelotet werden. Eine zentrale Forderung der Bürgerbewegung war „oben bleiben“. Daraus kann jetzt wenigstens ein „oben lassen“, also ein Erhalt der wichtigsten Zulaufgleise und Bahnhofsgleise auf der Oberfläche, werden, wenn man partout Kellergleise schaffen will.
- Moratorium wagen: Am ehrlichsten wäre allerdings ein komplettes Moratorium. Wenn Verkehrsminister Hermann und Bahnvorstand Lutz beide bekennen, dass das Projekt aus heutiger Sicht eigentlich falsch ist, dass es der Bahn große Verluste beschert und dass es die weitere Bahnentwicklung schwächt, dann muss auch ein Moratorium für einen kompletten Baustopp möglich bleiben. In der Energiepolitik hat es in letzter Zeit angesichts der offenkundig klimapolitischen Fehlinvestitionen in die Kohleverstromung trotz hoher Investitionen in die neuen Kraftwerke einen radikalen Stopp weiterer Kraftwerksbauten gegeben, mit der Bereitschaft, dafür auch Entschädigungen zu zahlen. Bei den Kraftwerksschließungen werden Anlagen im Wert von Dutzenden Milliarden Euro aufgegeben. Auch in Stuttgart rechtfertigen die bisherigen Investitionen dann den Weiterbau nicht, wenn das ganze Projekt aus heutiger Sicht falsch angelegt ist und nicht zu den klimapolitischen Herausforderungen passt.
Fazit: Damit könnte eine zentrale Forderung der Bürgerbewegung wie auch der großen Mehrzahl der mit dem Projekt befassten Fachleute erfüllt werden, nämlich die Sicherung einer ausreichenden Leistungsfähigkeit des Bahnknotensystems Stuttgart. Der Erhalt spart die Abbaukosten, vermeidet den Flaschenhals und bewahrt die ökologisch wichtige Freifläche vor weiterer Versiegelung durch Überbauung. Er ermöglicht eine verbesserte Verkehrs- und Wohnungsmarktentwicklung der Region. Und er beweist die Einsichtsfähigkeit des politisch-planerischen und ökonomischen Systems. Augen zu und durch wird dagegen zu einem bitteren Erwachen führen, wenn alle vor dem Scherbenhaufen einer nicht funktionsfähigen Bauruine und eines nicht leistungsfähigen Schienenknotens stehen.
Prof. Dr. Hermann Knoflacher Prof. Dr. Heiner Monheim