Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel: „100 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof“, 631. Montagsdemo, 10.10.2022

„100 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof“

Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel auf der 631. Montagsdemo am 10.10.2022

Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel bei seiner Rede auf der 631. MontagsdemoRedemanuskript

In den frühen Morgenstunden des 23. Oktobers 1922 nahm der Stuttgarter Hauptbahnhof an der Schillerstraße, also unser Kopfbahnhof, seinen Betrieb auf. In wenigen Tagen steht damit ein 100-jähriges Jubiläum bevor. Solche Ereignisse werden in der Zivilgesellschaft eigentlich würdig begangen. Das war in Stuttgart auch vor 50 Jahren und noch vor 35 Jahren so. Aber jetzt befindet sich unser Bahnhof in einem erbärmlichen Zustand. Die dafür Verantwortlichen haben sich (fast) alle buchstäblich „aus dem Staub gemacht“ und uns hier eine Baustellenwüste mit riesigem Verbrauch von klimaschädlichem Stahl und Beton hinterlassen.

Aber 2022 hat der Kopfbahnhof es mehr als verdient, dass die Leistungen bei Planung, Bau und nunmehr 100 Jahren Bahnbetrieb gewürdigt werden. Deshalb haben wir ein Festkomitee gegründet und verschiedene Veranstaltungen vorbereitet. Stadt, Land und Bahn haben sich daran trotz Aufforderung nur sehr wenig beteiligt. Dazu kann sich jeder selbst seine Gedanken machen.

Zum „Gedanken machen“ über die größte Fehlentscheidung der deutschen Eisenbahngeschichte – also Stuttgart 21 – wollen wir beim Bahnhofsjubiläum dadurch anregen, dass wir nicht erneut die gravierenden Probleme thematisieren, sondern die Qualität des Kopfbahnhofs deutlich herausarbeiten – ingenieurtechnisch, architektonisch und bahnbetrieblich.

Vor 100 Jahren waren die Gleise 9 bis 16, der markante Bahnhofsturm, der Südflügel und die große Schalterhalle errichtet worden. Dort, wo sich jetzt die Gleise 1 bis 8, kleine Schalterhalle und Mittelausgang befinden, lagen damals noch die Gleise zum Stuttgarter Zentralbahnhof an der Bolzstraße. Dieser völlig überlastete Bahnhof war bis in die späten Abendstunden des 22. Oktobers 1922 in Betrieb und nach nur 4 Stunden ging der neue Hauptbahnhof um 4.15 Uhr mit dem legendären Zug 561 nach Aalen in Betrieb. In der Fachwelt wurden die Kürze der Umstellungsphase und die bis ins Detail durchdachten Arbeitsabläufe hervorgehoben. Vergleiche zu aktuellen Bauvorhaben möge jeder selbst ziehen.

Die Inbetriebnahme vor 100 Jahren war eine Meisterleistung der württembergischen Ingenieure und Eisenbahner. Bitte gestattet mir, dazu erneut die motivierenden Worte von Präsident Dr. Sigel im Amtsblatt der Reichsbahndirektion Stuttgart an alle Beamten, Angestellten und Arbeiter zu zitieren:

„ … Aber auch das außerhalb Stuttgarts stationierte Personal kann zu seinem Teil die Bewältigung dieser Aufgabe dadurch fördern, daß für die strenge Einhaltung des Fahrplans für alle Züge im Verkehr mit Stuttgart Hbf. gesorgt wird. Mit mir werden es alle beteiligten Eisenbahner als Ehrensache ansehen, daß der Betrieb im neuen Bahnhof sofort glatt läuft. Ich vertraue daher darauf, daß jeder einzelne das Seinige hierzu beitragen und daß die Tüchtigkeit und der gute Ruf der schwäbischen Eisenbahner sich auch bei dieser Gelegenheit aufs neue bewähren wird“.

Mit dem Hauptbahnhof gingen auch die entsprechenden Zulaufstrecken in Betrieb, die sich im Tunnelgebirge, den einmaligen Stuttgarter Überwerfungsbauwerken, kreuzungsfrei nach Bad Cannstatt, Feuerbach und Böblingen wenden und in der mittleren Ebene den Abstellbahnhof zunächst mit drei, wenige Jahre später mit fünf Verbindungsgleisen an den Kopfbahnhof anbinden. Die Anlagen des Abstellbahnhofs und das Bahnbetriebswerk Rosenstein mit Lokschuppen und Werkstätten waren bereits 1919 in Betrieb genommen worden. Sie waren also schon erprobt, als der Kopfbahnhof den Betrieb aufnahm.

Schon in 10 Tagen, am 20. Oktober, laden das Festkomitee und die FrAKTION des Stuttgarter Gemeinderates zu einer Jubiläumsveranstaltung in den Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses ein. Herr Dr. Münzenmayer (Industrie- und Technikdenkmalpfleger) wird eine Vortrag über „Ingenieurbauwerke als Markenzeichen der Königlich Württembergischen Staatseisenbahn“ halten und unser Dr. Bongartz würdigt den „Kopfbahnhof und seine „goldene Taille“ als epochalen Wurf“. Es wird Grußworte geben und wir schauen gemeinsam historische Bilder und einen kurzen Film aus der „Eisenbahn-Romantik“ an. Außerdem wird dort auch noch der ganz aktuelle Stand zum Festwochenende am 22. und 23. Oktober präsentiert.

100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart

Um ein Grußwort haben wir auch Dr. Matthias Roser gebeten, der vor mehr als 30 Jahren sehr umfangreich den Stuttgarter Hauptbahnhof erforscht und dokumentiert hat. Etwas möchte ich der Festveranstaltung vorgreifen und aus seinen Worten hier zitieren:

„Ich grüße alle Anwesenden und danke dem Festkomitee für die umfangreichen Aktivitäten zur Würdigung des einzigartigen Stuttgarter Hauptbahnhofs. Ich bewundere Sie alle, die nicht aufgeben, sich in dieser Stadt zu engagieren, in der die Verantwortlichen so unbeschreiblich verantwortungslos handelten und noch immer handeln.“

Bei Matthias Roser haben wir uns herzlich für diese aufmunternden Worte bedankt und werden sein vollständiges Grußwort im Rathaus vortragen.


Am Festwochenende 22. und 23. Oktober, also direkt zum eigentlichen Jubiläum werden dann öffentliche Sonderfahrten mit historischen Zügen zwischen dem Hauptbahnhof Stuttgart, Esslingen, Ludwigsburg und (Stuttgart-)Vaihingen durchgeführt. Dabei kommen Lokomotiven und Wagen zum Einsatz, die teilweise schon vor 100 Jahren verkehrten. Ihr betriebsfähiger Erhalt ist der äußerst umfangreichen, ehrenamtlichen Arbeit vieler Museumseisenbahner zu verdanken. Zwei Züge werden zwischen 11 und 18 Uhr jeweils 5 kurze Pendelfahrten zu den angegebenen Zielen durchführen, also insgesamt 20 Zugfahrten von uns veranstaltet. Als ganz besonderes Erlebnis werden an jedem Tag auch 2 Züge mit Fahrgästen in den Abstellbahnhof fahren, so dass man dabei das Tunnelgebirge auch in der mittleren Ebene erleben kann.

Informationen und Fahrkarten sind unter www.100-jahre-hauptbahnhof-stuttgart.vk21.de verfügbar. Es gibt aber auch „richtige“ historische (Papp-)Fahrkarten in der tollen Ausstellung Miniaturwelten Stuttgart direkt am Hauptbahnhof. Dort hat der äußerst kreative Modellbauer Wolfgang Frey den Bahnknoten Stuttgart und sein städtisches Umfeld im Zustand der 1980er Jahre meisterhaft umgesetzt. Es bietet sich die Gelegenheit, die Schönheit des Kopfbahnhofs und die Genialität des Tunnelgebirges aus sonst unzugänglichen Perspektiven zu bewundern.

Mit der Verdeutlichung der Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Bahnhofs als Ganzes im Rahmen der Festveranstaltungen wollen wir natürlich auch sein Potential für den Bahnbetrieb der Zukunft verdeutlichen. Außerbetriebnahme und Abriss dieser gut funktionierenden Anlagen können damit als das erkannt werden, was sie wären: ein Schildbürgerstreich und ein bahnbetriebliches Desaster. Um das zu vermeiden kann es nur heißen:

Oben bleiben!