Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen (Heine) - die Denkmalzerstörung bei Stuttgart 21“, 586. Montagsdemo am 08.11.2021
„Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen (Heine) - die Denkmalzerstörung bei Stuttgart 21“
Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel, Ingenieure22 auf der 586. Montagsdemo am 08.11.2021
Redemanuskript
„Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ Mit diesen weit bekannten Worten beschrieb Heinrich Heine 1832 in der Augsburger „Allgemeine Zeitung“ die Bedeutung der Geschichte für die Gestaltung der Gegenwart. Für mich beinhaltet diese Formulierung aber auch die hohe Anerkennung für die Leistungen der Generationen vor uns.
Der vor 100 Jahren erfolgte Bau des Stuttgarter Hauptbahnhofes in seiner Gesamtheit – also nicht nur der Personenbahnhof, sondern auch der Güterbahnhof, der Abstell- und Wartungsbahnhof und die genial geplanten Überwerfungsbauwerke, auch Gleisgebirge genannt – stellt eine ganz herausragende geschichtliche Leistung dar. Diese Bahnhofsanlage wurde vor gut 10 Jahren von hochrangigen Politikern immer wieder mit Worten wie „Hüttenkruscht“ oder „Gleisgewurstel“ belegt; meist auch kritiklos von den Medien zitiert. Solche Entgleisungen sollten unseren Bahnhof entwerten, ihn als alt und leistungsschwach verunglimpfen – aber eigentlich haben sie in erster Linie gezeigt, wie wenig diese S21-Fanatiker von der Eisenbahn – ihrer Funktionsweise, aber auch ihrer Geschichte – verstehen.
Die Denkmalzerstörung bei Stuttgart 21 ist so umfangreich, dass dies in keinem Fall umfassend in einer Rede dargestellt werden kann. Vieles ist bekannt und die DB sorgt auch immer wieder für aktuelle Erweiterungen, z.B. bei der Entfernung einer tragenden Wand mit Zerstörung der Bahnhofsfassade. Auf diese peinliche Entgleisung und viele weitere Aspekte der Denkmalzerstörung kann ich heute nicht eingehen.
Aktuell läuft das Anhörungsverfahren zum sogenannten Rückbau des Abstellbahnhofs. Die Planungen wurden ausgelegt, stehen im Netz weiterhin zur Verfügung und bis 19. November können noch Einsprüche beim Regierungspräsidium eingereicht werden. Die Unterlagen lassen sich recht einfach beschreiben: Alles plattmachen, also nicht nur Gleise und Schotter entfernen, sondern auch alle Gebäude einschließlich der Fundamente.
Dort steht aber ein denkmalgeschützter Lokomotivschuppen, der in zentraler Lage als Bahnbetriebswerk Rosenstein für Wartungs- und Reparaturarbeiten genutzt wurde. Vom Landesamt für Denkmalschutz wird ihm ein hoher Seltenheitswert bescheinigt und ausdrücklich auf eine mögliche Umnutzung hingewiesen. Die restaurierten Wagenhallen am Nordbahnhof zeigen doch, welches Potential so eine Umnutzung hat. In vielen Dialogforen wurde der Erhalt des Lokschuppens gefordert und die meisten Planungen für das Rosensteinquartier enthalten ihn.
Stuttgart und Württemberg habe eine einzigartige Eisenbahngeschichte, aber im Gegensatz zu den großen Museen für Mercedes, Porsche und die Stuttgarter Straßenbahn sucht man vergebens nach einem würdigen Platz für die Bewahrung der Geschichte der Staatseisenbahn – der Lokschuppen wäre ideal. Davor befindet sich eine funktionierende Schiebebühne, die von der Maschinenfabrik Esslingen gebaut wurde. Es ist die einzige, die noch heute erhalten ist. Aber die eingereichten Planungen würden sowohl Lokschuppen als auch Schiebebühne zerstören. Das Amt für Denkmalschutz hat übrigens seinen Sitz in Esslingen. Es ist aber bei Stuttgart 21 als zahnloser Tiger bekannt.
Jetzt soll über den Rückbau des Abstellbahnhofs entschieden werden, aber für den zentralen Abschnitt des geplanten Rückbaus – den Kopfbahnhof mit Gleisvorfeld und Zulaufstrecken – liegt nach Aussage des Regierungspräsidiums noch nicht einmal ein Antrag vor. Es wird also wieder mal trickreich das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt, denn erst beim Rückbau des Kopfbahnhofes können die aktuellen und zukünftigen Verkehrsbedürfnisse entscheidend zur Geltung gebracht werden. Durch die andauernde Diskussion um die Notwendigkeit einer Ergänzungsstation für S21 sind diese Verkehre ja eindeutig belegt und verhindern – bei aktueller Gesetzeslage – nach §23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes die für den Städtebau erforderliche Entwidmung (Freistellung von Betriebszwecken) der Bahnflächen – egal, ob Stadt oder Bahn der Eigentümer ist. Wo bei der Ergänzungsstation von VM Hermann eine Abstellung von Zügen möglich ist, das bleibt auch offen. So etwas hätte es bei der Württembergischen Staatseisenbahn nicht gegeben.
Die Unterlagen für den geplanten Rückbau des Abstellbahnhofs sind im Netz zu finden unter →Regierungspräsidium Stuttgart - Aktuelle Planfeststellungsverfahren auf der Seite „Schiene“. Bis Freitag, den 19.11.2021, können Einsprüche eingereicht werden.
Bei der oben beschriebenen Verunglimpfung des Kopfbahnhofes hat sich auch der ehemalige OB Dr. Schuster sehr exponiert. Aber im Gegensatz zu seinem Nachfolger Kuhn hat er im Rathaus mehrere hochkarätig besetzte Veranstaltungen zu Architektur und Städtebau für das angedachte Rosensteinquartier durchgeführt. Neben Stadtplanern aus Wien, Utrecht und Zürich trat auch der Architekt Prof. Lampugnani auf. Er hat viele Jahre an der Uni Stuttgart gelehrt und kannte sich deshalb hervorragend mit Stuttgart 21 aus. In der Diskussion hat er gegenüber OB Schuster zunächst klargestellt, dass ihm noch keiner eine ihn überzeugende Begründung für die Drehung und Tieferlegung des Hauptbahnhofs geliefert hat, aber dass bei einer solchen Entscheidung ein Komplettneubau statt eines Umbaus mit alibimäßigem Teilerhalt richtig wäre. Das sagte ein Fachmann, der in der Einladung als ‚der bekannteste und profilierteste Architekturhistoriker Europas‘ charakterisiert wurde.
Besonders haben mich aber folgende Worte von Prof. Lampugnani beeindruckt: „Bahnstrecken gehören zu einer Stadt wie Flüsse. Sie geben Struktur und prägen den Charakter“. Das sagt ein internationaler Experte im Rathaus, aber Stuttgart hat seinen Fluss vergewaltigt (Rede von Ch. Hofrichter zur 585. Montagsdemo) und 60 km Tunnel im Stadtgebiet können ja wohl keine Struktur geben – von Charakter ganz zu schweigen.
In einem solchen Umfeld muss es eigentlich niemanden verwundern, wenn die Landeshauptstadt Stuttgart nicht an dem sich in den letzten Jahren gut entwickelnden Inlandstourismus beteiligt ist, sondern sogar rückläufige Zahlen konstatieren muss. Es wird eingeschätzt, dass dabei die Talsohle noch nicht erreicht ist. Das ist ja keine Überraschung bei jahrzehntelangen Baustellen im Herzen der Stadt mit immer längeren Wegen.
Das Versagen der Verantwortlichen der DB, von Landeshauptstadt und Land speziell beim Denkmalschutz und bei Stuttgart 21 ganz generell wird treffend mit dem Zitat von Robin Wood an der Mahnwache beschrieben:
„Erst wenn alles zerstört ist, werdet ihr merken, dass sie nicht in der Lage sind, einen Bahnhof zu bauen.“