Rede von Arno Luik, Journalist und Autor „Schaden in der Oberleitung – das geplante Desaster der Deutschen Bahn AG“ auf der 479. Montagsdemo am 2.9.2019

Schaden in der Oberleitung – das geplante Desaster der Deutschen Bahn AG


Guten Abend,

Es freut mich, dass Sie hier sind!

Man muss hier sein, denn was in Sachen S21 passiert, was mit der Bahn prinzipiell passiert, was das Land Baden-Württemberg in Sachen Schiene macht: Es wird immer verrückter.

Dazu zwei Rückblenden:

Erste Rückblende: Winter 2017

Kurz vor Weihnachten 2017 treffe ich zufällig den ehemaligen Bahnchef Rüdiger Grube im Berliner Tiefbahnhof. Bevor wir in den Zug nach Hamburg einsteigen, der, ein paar Tage nach der Einweihung der neuen ICE-Rennstrecke München – Berlin, von München kommend, eine gute Stunde Verspätung hat, sprechen wir kurz über S21.

Wenn das Projekt in Stuttgart mal mehr als 4,5 Milliarden Euro kosten würde, hatte Grube 2010 und 2011, kurz vor der sogenannten Volksabstimmung, stets  den Bürgern in Baden-Württemberg versichert, wäre es unwirtschaftlich – und das könne er, „als ehrbarer Hamburger Kaufmann“ nicht verantworten. Jetzt, vor ein paar Tagen, kurz vor Weihnachten 2017 also, die unverschämte Bescherung: Jetzt nicken die Bahn-Aufsichtsräte die astronomische Summe von 8,2 Milliarden Euro für S21 ab.
„Herr Grube, nun nähern sich die Kosten von S21 den Zahlen, die ich im STERN schon vor acht, neun Jahren veröffentlicht habe.“

„Diese Zahlen waren mir nicht bekannt!“ „Ich hatte diese Zahlen aus „streng vertraulichen“ Dossiers an den Bahn-Vorstand, Sie müssen diese Dossiers doch auch kennen, müssen Sie gekannt haben!“
„Nein, diese Zahlen kannte ich nicht, ich hab das nie gehört. Dass es nun so teuer wird und sich alles so verzögert, daran sind vor allem die Demonstranten schuld und Journalisten wie Sie. Aber S21 kommt, und das ist gut so.“


Zweite Rückblende: Frühjahr 2011

Im Frühjahr 2011 bekomme ich das sogenannte Azer-Dossier zugespielt, die erste ernsthafte interne Analyse von S21, in Auftrag gegeben von dem damaligen S-21-Projektleiter Hany Azer. Darin ist detailliert aufgelistet, dass seine Ingenieure die Sache nicht im Griff haben, dass alles unglaublich teuer wird, dass der Zeitplan nicht einzuhalten ist, dass es fundamentale Probleme mit dem Brandschutz gibt. Dieses Dossier ist der Notruf: Stoppt das Ding! Zieht die Notbremse, bitte!
Kein Verantwortlicher wollte das aber hören. Stattdessen musste Azer, der wissende Kritiker, gehen.
130 Seiten dick ist sein Dossier. „Chancen und Risiken" steht auf dem Deckblatt. Es ist kein Routinebericht, es ist, wie gesagt, die erste umfassende Analyse von S21. Es ist für die S21-Befürworter die Katastrophe.

Die häufigsten Worte auf diesen 130 Seiten sind „Risiko“, „Kostenrisiko“, „signifikantes Risiko“, „signifikantes Kostenrisiko“. Und immer wieder dieser Satz: „Es besteht das Risiko, dass das angesetzte Einsparpotenzial nicht realisiert werden kann.“

Nach den offiziellen Zahlen von 2011 sollte der Tiefbahnhof 4,088 Milliarden Euro kosten – und er dürfe und werde, das war das große Versprechen von Politik und Bahn damals, nie mehr als 4,5 Milliarden Euro kosten. Das sei der Kostendeckel, der einzuhalten ist.

Die Analyse der DB Projektbau GmbH, die am 25. März 2011 abgeschlossen wurde, also das Azer-Papier, belegt aber: Die Planer wissen sehr genau, dass dieser Kostendeckel ein Witz ist. Also – eine Lüge?

Rechnet man die potenziellen Kosten-Risiken aus dem Azer-Paper zusammenkommen, kommt man dabei auf rund drei Milliarden Euro Zusatzkosten für das Projekt.
Und, da wird es ganz, ganz aktuell, mit dem Azer-Papier: Man schaffe mit S21 nicht nur ein schwer beherrschbares System, sondern einen Verkehrsknoten, der eine Insel im Bahnverkehr ist, für nahezu alle Züge, für Fern-, Nah- und Regionalzüge, und für S-Bahnen unerreichbar. Der Grund: S21 werde ohne die eisenbahnübliche Ausrüstung konzipiert, also ohne die üblichen Signalsysteme. S21 wird unerreichbar sein für Züge, die nicht über das teure ETCS-Signalsystem verfügen.

Und auch das geht aus dem Azer-Papier von 2011 hervor, dass die Bahn nicht vorhat, die Kosten für die Signalnachrüstung zu übernehmen, sie hat auch nicht vor, die Kosten bei der ETCS-Nachrüstung zu übernehmen, laut Dossier gehört das „nicht zum Projektinhalt“.

Mir wurde damals aber gesagt: Ich sei verrückt, natürlich werde die Bahn S 21 mit der normalen Signaltechnik ausrüsten. Mir wurde damals gesagt, ich sei verrückt, einfach zu behaupten, S21 werde ohne Signalanlagen ausgerüstet.

Ja, ich musste damals als verrückt dargestellt werden: Denn sonst hätten die 21-Betreiber, Grube, Kefer, Mappus, 2011 ja zugeben müssen: Da wird es nochmals gigantische Zusatzkosten wegen S21 geben: nämlich rund 3 Milliarden Euro.
Jetzt, im Frühjahr 2019, hat das Verkehrsministerium von Winfried Hermann auf Nachfrage von mir konzediert, dass S21 ohne die übliche Signaltechnik ausgestattet wird und dass man mit dem Bund wegen dieser ETCS-Nachrüstungskosten Gespräche führe. Und dann hieß es plötzlich: Die Ausstattung mit ETCS sei nun ein „Pilotprojekt“.

Ein Pilotprojekt? Ein Pilotprojekt bei einem Unterfangen, das schon für sich genommen ein absurdes Pilotprojekt ist: Ich sage nur: schiefer Bahnsteig. Ich sage nur: Brandschutz. Ich sage nur: Kapazitätsabbau.
Nun also das Pilotprojekt ETCS. Dieses Pilotprojekt ist ein weiterer Trick, um wieder einmal S21-Kosten auszulagern, zu verschleiern. S21 billiger erscheinen zu lassen, als es faktisch ist. Zusätzliche Kosten, wie gesagt: drei Milliarden Euro.

Aber: Diese Zusatz-Kosten tauchen nicht im Haushalt von S21 auf. Der Bund wird sie wohl übernehmen - also alle, die S21 nicht haben wollen, werden für etwas bezahlen müssen, ungefragt, was sie aus guten Gründen nicht wollen.
Aber dass diese Kosten kommen würden - das wussten sie alle, diese S21-Piloten, schon spätestens 2011. Man hat es einfach verschwiegen. Man wollte ja in der sogenannten Volksabstimmung über S21 siegen. Verrückt!

Während ich hier rede, strömen ein paar Kilometer von hier entfernt, bei Obertürkheim, täglich 2,6 Millionen Liter Wasser in einen S21-Tunnel. Auch davor hatte das Azer-Papier gewarnt, dass mit so etwas in Stuttgarts tückischem Untergrund zu rechnen sei. Das Wasser tropft und tropft in den Tunnel, es tropft über eine Strecke von mehreren Hundert Metern – und wie sie dieses Tropfen in Griff kriegen wollen? Das ist komplett unklar. Sie wissen es nicht, es gibt keine Lösungen bisher – seit Monaten nicht. Die Arbeiten liegen still.
Die Natur, liebe S21-Gegner und Gegnerinnen, ist auf Ihrer Seite! Aber natürlich auch die Vernunft!

Nun hat ja die große Politik in Berlin erklärt, mehr Güter, mehr Personen sollen auf die Schienen zu bringen, viel mehr Personen. Bis zum Jahr 2030 soll die Zahl der Zugreisenden sich verdoppeln. Das ist eine schöne Absichtserklärung, nur: daraus wird nichts.

Gerade auch wegen S21. Dieses Mini-ICE-U-Bahnhöfle, das da im Untergrund entstehen soll, verhindert einen sinnvollen, einen modernen, einen ökologischen Verkehr: Es lässt keinen Taktfahrplan zu, es reduziert – Sie wissen es – die Verkehrsleistung dramatisch. S21 konterkariert die schönen Absichtserklärungen der Politik:

  • S21 sorgt nicht für mehr Schienenverkehr.
  • S21 behindert den Schienenverkehr.
  • S21 bringt mehr Autos auf die Straßen.
  • S21 ist ein Klimakiller.

Und nun wird es bizarr, geradezu surreal: Weil nun auch ein paar Verantwortlichen klar wird, dass S21 den Schienenverkehr der Zukunft massiv behindert, also völlig aus der Zeit fällt, sitzen jetzt im Verkehrsministerium ein paar Leute zusammen und denken und denken und tüfteln und tüfteln, um eine Lösung zu finden. Und was für eine Lösung sie finden! Ein weiteres Bahnhöfle im Untergrund muss her, sagt Winfried Hermann. Er nennt es euphemistisch: Ergänzungsbahnhof.

Es ist nicht zu fassen!
Da hat man ein riesiges Problem mit diesem Unfug-S21-Tief-Schief-Bahnhof, und dieses riesige Problem will man lösen, indem man noch mehr Unfug anstellt, noch mehr Milliarden verbuddelt, noch einen Tiefbahnhof bauen will!

Verrückt!
Und nun wird das Verrückte noch richtig putzig: Hermann möchte ein paar der alten Gleise des Hauptbahnhofs als Zulaufgleise für sein Winfried-Hermann-Gedächtnis-Kopf-Tiefbahnhöfle erhalten. Das aber regt seine in der Stadt regierenden Grünen mächtig auf, vor allem den Baubürgermeister Peter Pätzold: Die wollen in bester unseliger Dürr-Mehdorn-Grube-Kefer-Mappus-Oettinger-Schuster-Drexler-Immobilienhaie-Manier alle Gleise rausreißen.

Irre! Und tief-traurig zugleich.

Denn hier steht ein Bahnhof, der trotz seiner Beschädigungen noch immer bestens für die Zukunft gerüstet ist – das zeigt sich ja derzeit immer mehr. Aber dieser Bahnhof soll nun als ein Hotel missbraucht werden, mitgesponsert übrigens von einem Schweineschlächter, Clemens Tönnies, der neulich auch noch durch rassistische Äußerungen aufgefallen ist. Es ist nicht zu fassen. Das Absurde ist in Stuttgart die Realität!

Für mein Buch, das ich morgen drüben im Rathaus vorstelle, habe ich noch Dinge über die Bahn gelernt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Sie alle wissen es, die Bahn geht rücksichtslos über fast alles und fast alle hinweg, gerade auch über die Bürger, die diese Bahn finanzieren, und ohne deren Geld die Bahn keine Sekunde überleben könnte. 

Ich konnte mir aber bis vor ein paar Monaten nicht vorstellen, wie rücksichtslos die Bahn, dieser volkseigene Betrieb – er gehört ja uns allen - bundesweit agiert. Ich traf viele Menschen in den vergangenen Monaten, die die Bahn eigentlich mögen, die aber unter ihr leiden und an ihr verzweifeln.

Ich traf einen Pfarrer, an dessen Kirche nicht mal einen Meter von den Gleisen entfernt im Fünf-Minuten-Abstand Personen- und Güterzüge vorbeirumpeln, Tag und Nacht, ein Höllenlärm: „Ich weiß“, sagte der Pfarrer, „was ich mir im Paradies erhoffe: keine Züge!“

Ich traf einen Vielfahrer. Seine wichtigster Satz über das Bahnfahren: „Wenn ich jetzt mit dem Zug fahre, gehe ich vorher aufs Klo und trinke nichts. Die meisten Toiletten sind ja heutzutage defekt, und die nicht defekten sind verdreckt.“

Ich traf einen Verkehrsplaner, der seit vielen Jahren mit der Bahn zu tun hat, seine Erfahrung mit der Bahn fasst er so zusammen: „Die Bahn ist bloß noch eine Scheinverkehrsfirma. Sie ist zu einem Betrugskonzern mutiert, der sich der Betonindustrie unterworfen hat. Die Bahn ist eine regierungskriminelle Vereinigung zur Veruntreuung von Steuergeldern“.

Und S21 ist dafür das bundesweite Symbol. In diesem Loch da, mitten in Stuttgart, verschwinden Milliarden von Steuergeldern!

Also bis morgen im Rathaus, kommen Sie!


Arno Luik nach seiner Rede auf dem Weg zum BahnhofArno Luik nach seiner Rede auf dem Weg zum Bahnhof.