Rede von Prof. Dr. Tim Engartner: „Wege in das Bahnwunderland - oder: Ein ‚Acht-Punkte-Plan' für die Renaissance des Schienenverkehrs", 440. Montagsdemo am 5.11.2018
Wege in das Bahnwunderland – oder: Ein ‚Acht-Punkte-Plan' für die Renaissance des Schienenverkehrs
Rede von Prof. Dr. Tim Engartner, Sozialwissenschaftler und Autor, auf der 440. Montagsdemo am 5.11.2018
Der am 12. Oktober nahe der rheinland-pfälzischen Stadt Montabaur in Flammen aufgegangene ICE hat die Debatte um die unzulängliche Wartung von Zügen der Deutschen Bahn (DB) AG erneut entfacht. Zuletzt war die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Köln und Frankfurt a. M. in die Schlagzeilen geraten, als ein an Siegburg vorbeifahrender Zug einen Böschungsbrand ausgelöst hatte, bei dem ein knappes Dutzend Häuser – vermutlich durch einen Funkenflug – in Brand gesetzt worden waren. Und im April 2010 hatte ein ICE auf ebenjener Strecke eine Tür verloren, die in einen entgegenkommenden Zug einschlug. Dabei hatte schon der berüchtigte „Radsatzwellenbruch“ im Juli 2008 die Diskussionen um die nachlässige Wartungs-, Investitions- und Sicherheitspolitik der DB entfacht. So war es der niedrigen Geschwindigkeit des Zugs vor der Einfahrt in den Kölner Hauptbahnhof zu verdanken, dass es nicht zu einem Unglück wie 1998 in Eschede kam, als bei dem schwersten Bahnunglück in der Geschichte 101 Menschen ihr Leben verloren.
Symptome einer rigorosen Kapitalmarktorientierung
Die vier Vorfälle ereigneten sich nicht nur alle auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen der Domstadt am Rhein und der Bankenmetropole am Main, sondern zeugen zugleich von der Kapitalmarktorientierung des 1994 zur Aktiengesellschaft erklärten „Unternehmens Zukunft“ (Eigenwerbung). Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen sowie Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund „dichter Zugfolge“ lassen die Bahn als Transportalternative seit Jahren häufig unattraktiv erscheinen. Allein im vergangenen Jahr liefen 97.000 Züge nicht im Zielbahnhof ein. Und obwohl diese Zugausfälle nicht in die Pünktlichkeitsstatistik eingehen, fährt die DB jeden Tag rund 8.000 Stunden Verspätungen ein. Überfüllte Waggons, fehlende Reservierungen, defekte Klimaanlagen, verschlossene Toiletten, ausverkaufte Speisen im Bistro und instabile WLAN-Verbindungen verleiden selbst treuen Bahnreisenden die Zeit an Bord.
„Acht-Punkte-Plan“ für eine Renaissance auf der Schiene
All dies sind Symptome einer seit Beginn der Ära Hartmut Mehdorns im Jahre 1999 hartnäckig verfolgten Kapitalmarktorientierung. Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass Verkehrsplanung auch deshalb ein unverbrüchliches Prinzip öffentlicher Daseinsvorsorge ist, weil sie Wachstums-, Integrations- und Versorgungseffekte zeitigt, mithin in einer vernetzten Volkswirtschaft ein unabdingbares Instrument der Konjunktur- und Beschäftigungspolitik ist. Soll das von allen Umwelt- und Verkehrspolitikern geteilte Credo „mehr Verkehr auf die Schiene“ Wirklichkeit werden, um den „Verkehrsinfarkt“ in den Innenstädten mitsamt milliardenschwerer „Staukosten“ und irreparablen Umweltschäden zu beenden, muss das Schienenverkehrssystem schlicht besser, billiger und bürgernäher werden. Dazu müssten folgende acht Punkte endlich umgesetzt werden:
Um Brücken zu sanieren, Oberleitungen zu warten, Trassen von Vegetation zu befreien und beheizte Weichen zu verlegen, braucht es mehr Investitionen in die Schienenverkehrsinfrastruktur. Nach wie vor privilegieren überproportional hohe Investitionen in den Straßenaus- und -neubau den motorisierten Individualverkehr – und diskriminieren den Verkehrsträger „Schiene“. Finanzflüsse an die Bahn dürfen nicht länger als Subventionen gebrandmarkt werden. Subventionen sind beim Straßennetz ganz selbstverständlich – wie etwa im Fall des 1,9 Mrd. Euro teuren Baus der unwirtschaftlichen Bundesautobahn A 20 im Ostseeküstenraum.
Die bahnfeindliche Steuer- und Abgabenarchitektur muss ein Ende finden. Noch immer zahlt die Bahn als umweltfreundlichster Verkehrsträger nach dem Fahrrad sowohl die Mehrwertsteuer wie auch – auf nicht elektrifizierten Strecken – Mineralöl- und Ökosteuer. Demgegenüber wird der grenzüberschreitende Flugverkehr von der Mehrwertsteuer ausgenommen, der Kerosinverbrauch weltweit nicht besteuert und somit hierzulande auch die Ökosteuer als sogenannte Annexsteuer nicht erhoben. Wenn Low-Cost-Carrier wie Ryanair Flüge für 9,99 Euro anbieten können, liegt das nicht nur an der unzureichenden Bezahlung der Beschäftigten, sondern auch an der massiven steuerlichen Privilegierung.
Die Bahn muss mehr Verkehr in die Fläche bringen, um möglichst viele Fische am Verkehrsmarkt zu fangen. Sie darf sich nicht länger aus den peripheren Bedienungsgebieten zurückziehen. Während der Bund der DB AG das Stilllegen von Nebenstrecken, Personen- und Güterbahnhöfen erlaubt, „diffundiert“ der Verkehrsträger Flugzeug bis in entlegenste Regionen, wie die Flughäfen in Hahn, Kassel-Calden, Paderborn-Lippstadt und Weeze zeigen.
Statt auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag zu setzen, muss der DB-Vorstand den (inländischen) Schienenverkehr stärken, um möglichst viele Fahrgäste zwischen Datteln, Delmenhorst und Diemarden zu befördern. Es ist der Nachlässigkeit der Bundesregierung geschuldet, dass sich die DB als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister in mehr als 130 Staaten entfaltet, wenn sie mit der Bonität der Bundesrepublik im Rücken Fluggesellschaften (BAX Global), Lkw-Speditionen (Hugo Stinnes GmbH), Fuhrparks (Bundeswehr) oder aber Bauvorhaben in Indien und Saudi-Arabien (DB Engineering & Consulting) verfolgt.
Es braucht eine Abkehr von Großbauvorhaben wie Stuttgart 21. Mehr als 10 Mrd. Euro wird das ingenieurtechnisch und geologisch höchst riskante Großbauvorhaben im Falle eines ausbleibenden Baustopps verschlingen, um die Gleisanschlussstellen in Tieflage zu bringen, das vormals oberirdische Bahnareal zu erschließen und geringfügige Fahrtzeitgewinne zu realisieren. Dabei sollte die DB AG in Projekte investieren, die den Verkehr für möglichst viele Bahnreisende stärken. Obwohl rund 90 Prozent aller Bahnfahrten auf den Schienenpersonennahverkehr entfallen, d. h. auf Strecken von unter 50 km Reichweite oder weniger als einer Stunde Fahrtzeit, fließen nur zehn Prozent aller personentransportbezogenen Investitionen dorthin.
Die DB muss die Fahrpreise stabilisieren, um das Massenverkehrsmittel Bahn für möglichst viele (potenzielle) Bahnreisende erschwinglich zu halten. Stattdessen erhöhte sie seit 2003 die Preise um insgesamt 39 Prozent im Fern- und um 41 Prozent im Nahverkehr. Für Anfang Dezember sind erneut Tariferhöhungen geplant. Statt immer neuer Marketing-Strategien wie dem unlängst eingeführten „Super Sparpreis“ sollte eine verlässliche Fahrpreispolitik zu Gunsten treuer Kunden verfolgt werden. Warum setzt die Bundesregierung keine Tarifobergrenze für Bahnreisen fest, wie dies mit der zum Jahresende 2013 eingeführten „Markttransparenzstelle“ – der sogenannten Benzinpolizei – für den Straßenverkehr geschehen ist?
Es braucht einen Abgesang auf das Hohelied des Wettbewerbs im Bahnverkehr. Die DB AG steht bereits in einem intensiven (intermodalen) Wettbewerb mit dem Straßen-, Luft- und Schiffsverkehr. Es braucht keinen (intramodalen) Wettbewerb zwischen verschiedenen Bahngesellschaften. Bei identischen Trassenpreisen kann Wettbewerb zwischen Betreibergesellschaften schließlich nur stattfinden, wenn Arbeitsplätze abgebaut, Serviceleistungen reduziert und/oder Löhne gesenkt werden.
Bahnhofsgebäude müssen wieder zu Kulturdenkmälern, touristischen Aushängeschildern und Orten der Begegnung werden. Dazu muss die DB AG wenigstens in die Bahnhöfe investieren, die sie nicht schon verkauft hat. Der kostenfreie Zugang zu Toiletten, der Fahrkartenverkauf am Schalter, das Verweilen in dortigen Cafés sowie der Umstieg in den ÖPNV vor Ort – all diese Möglichkeiten muss der Bahnvorstand im Blick haben, um den Verkehrsträger Schiene wieder in das öffentliche Mobilitätsbewusstsein zu rücken.
Überfälliger Paradigmenwechsel
Conclusio: Um den Schienenverkehr zu stärken, muss die Bundesregierung der Kapitalmarktorientierung im Schienenverkehrssystem eine Absage erteilen. Der generationenübergreifende Zeitraum, auf den Infrastrukturinvestitionen ausgelegt sind, steht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis mit den kurzfristigen Rentabilitätsinteressen eines börsennotierten oder auch nur -orientierten Unternehmens. Vorstand und Aufsichtsrat der DB AG müssen endlich zu der Einsicht gelangen, dass ein modernes Verkehrswesen, auf das jedes Industrieland allein angesichts des beschleunigten Klimawandels angewiesen ist, Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die der Markt allein nicht bieten kann. Legislaturgetriebene Volks- und quartalsgetriebene Unternehmensvertreter dürfen eine stärkere Finanzierung des Bahnverkehrs nicht länger scheuen. Andernfalls droht uns ein fragmentiertes, überteuertes und ruiniertes Bahnsystem nach britischem Vorbild.
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und Autor des Buchs „Staat im Ausverkauf. Privatisierung in Deutschland“ (Campus Verlag 2016; 22,95 Euro).