ETCS in den Mühlen von Bahn und Politik
Vorgeschichte
Schon seit 2015 gibt es beim Verband Region Stuttgart (VRS) Überlegungen, auf der Stammstrecke der S-Bahn-Stuttgart das →Europäische Zugsicherungssystem ETCS zu installieren - dies nachdem das Verkehrswissenschaftliche Institut der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem ETCS-Anbieter Thales in einer Studie große Potentiale für die Taktfolge und die Pünktlichkeit der Stuttgarter S-Bahn ausmachten. Kritisch war an den Ergebnissen der Studie anzumerken, dass von Haltezeiten ausgegangenen wurde, die zwar richtliniengetreu, aber für die Spitzenzeiten nicht realitätsnah waren.
Im Juli 2017 hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) bei McKinsey & Co eine Machbarkeitsstudie zur Einführung von ETCS und Digitalen Stellwerken (DSTW) in Auftrag gegeben, die mittlerweile mit positivem Ergebnis zu Gunsten der ETCS- und DSTW-Einführung vorliegt. Die Kernaussagen finden sich in einer Pressemitteilung vom September 2018.
Anfang 2018 hat das BMVI das Programm →Digitale Schiene Deutschland aufgelegt, das in den nächsten 2-3 Jahrzehnten die flächendeckende ETCS/DSTW-Ausstattung des gesamten Netzes der Deutschen Bahn vorsieht. Mit der dafür erforderlichen Finanzmittelausstattung sieht es allerdings noch schlecht aus.
McKinsey empfiehlt u.a., in der die Region Stuttgart ein ETCS/DSTW-Pilotprojekt - auch für einen Teil der S-Bahn-Strecken (Filderstadt/Goldberg ⇔ Feuerbach/Bad Cannstatt) – parallel zum Bau von Stuttgart 21 (S21) durchzuführen, um die Neuerungen gleichzeitig mit der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 in 2025ff einzuführen.
Das wurde auch in der →Lenkungskreissitzung Stuttgart 21 am 5.11.2018 so kommuniziert. Das hat u.a. auch den Verband Region Stuttgart zum Durchstarten animiert: Wenn sich S21 schon verzögert, dann haben wir die einmalige Chance, ETCS für die S-Bahn gleich mitzumachen und auch Geld vom Bund dafür zu bekommen.
Bereits davor, am 24.10.2018 hat der Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg, Winfried Hermann, im Verkehrsausschuss des Landtags eine Präsentation Umsetzung ETCS/DSTW-Pilotprojekt in der Region Stuttgart gezeigt.
Hinweis: Beim Klick auf den vorstehenden Link öffnet sich die Präsentation in einem neuen Fenster, so dass sie parallel zum Lesen dieses Beitrags angeschaut werden kann.
Die recht ausführliche, bebilderte Präsentation ist in 4 Kapitel gegliedert:
- Das Programm „Digitale Schiene Deutschland“ der DB AG (Folien 3 und 4)
- ETCS/DSTW für die Stuttgarter S-Bahn (Folien 6-20)
- Das ETCS/DSTW-Pilotprojekt im Schienenknoten Stuttgart (Folien 22-24)
- Weiteres Vorgehen (Folien 26-27)
Im Kapitel 2 wird u.a. darauf eingegangen, wieso sich gemäß einer von den Partnern DB Netz AG, Verkehrsministerium BW und VRS in 2017 beauftragten ETCS-Untersuchung (Technik, Kosten, Zeitbedarf) nur mit ETCS/DSTW eine praktikable und finanzierbare Möglichkeit der Verbesserung der Pünktlichkeit und der Taktfolge bereits in den kommenden 10 Jahren erzielen lässt. So heißt es dort u.a.
[Folie 7] „2. Ansatz: bessere Nutzung der vorhandenen Infrastruktur … Potenziale zur Beschleunigung der Fahrgastwechsel nahezu ausgeschöpft“
Kommentar: Dann kann man sich von den Haltezeiten von 30 bzw. 36 Sekunden gemäß Richtlinie zumindest für die Spitzenzeiten getrost verabschieden, denn z.B. in Hbf(tief) betragen Sie in den Spitzenzeiten nicht selten mehr als 1 min. Vielleicht sollten die Verantwortlichen besser die fast nutzlose und ineffektive Reisendenlenkung durch Einstiegshelfer verbessern als Hunderte von Millionen für ETCS auszugeben, um im Zulauf event. ein paar Sekunden einzusparen.
[Folie 8] „2016: Erste Untersuchungen der DB Netz AG → positive Ergebnisse“
Kommentar: Positiv stimmt zwar, aber (nur) 5–9% sind nicht gerade überragend.
[Folien 10 und 11]
- „Mit konventioneller Signalisierung beträgt der Abstand zweier planmäßiger Züge ein Kilometer“
- „Mit ETCS kann der Abstand deutlich verkürzt werden“
Kommentar: Aus Folie 11 könnte man schließen, dass es bei ETCS keinen Durchrutschweg mehr gibt. Das ist irrführend und falsch zugleich! Zum anderen ist die Darstellung in Folie 10 falsch, zumindest tendenziös: Bei konventioneller Signalisierung muss der Zugabstand zweier planmäßigen Züge nicht zwingend einen Kilometer betragen, sonst würde die S-Bahn-Stammstrecke heute nicht funktionieren, denn dort beträgt der Signalabstand lediglich 500 m (Halbregelabstand) und könnte bei Bedarf auch noch weiter reduziert werden.
Im Fall der konventionellen Signalisierung (Folie 10) wird ein genauer Zugabstand genannt, bei ETCS (Folie 11) nur ein nebulöser Begriff. Das ist nicht seriös.
Für tiefergehende Erklärungen zu der Thematik in Folie 10 und 11 klicken Sie bitte auf →HIER.
[Folie 13] Funktionsweise von ETCS Level 2 mit teilautomatisiertem Fahrbetrieb (ATO GoA 2). Quelle: VM BW
Kommentar: Erstaunlich, dass der ATO-Server über den öffentlichen Mobilfunk läuft. Was passiert bei dessen Ausfall? Und was geschieht beim Ausfall von GSM-R?
[Folie 17] Die betrieblichen und verkehrlichen Ziele der Untersuchung werden voll erfüllt.
Kommentar formal: Eine unlogische Überschrift!
„Mehr als 24 Züge/h auf der Stammstrecke nach Umsetzung flankierender Maßnahmen“
Kommentar/Frage: Welche Maßnahmen sind dies zum Beispiel?
[Folie 18] „Bessere Bremsverzögerung“
Kommentar: Bedeutet dies schärfere Betriebsbremsung?
[Folie 20]
„Innovativster Stand der Technik kann geplant und ausgeschrieben werden → Dieser ist aufwärtskompatibel!“
Kommentar: Geschraubt formulierte Hypothese in der Hypothese! Natürlich ist ETCS das Zugsicherungssystem der Zukunft, aber man vergisst, dass es ‚viele ETCS' gibt, denn die Standardisierung ist keinesfalls abgeschlossen, da auch in Zukunft immer nationale Besonderheiten berücksichtigt werden müssen. Und wie kann etwas aufwärtskompatibel sein, wenn man doch noch gar nicht weiß, was die Zukunft bringt? Ganz abgesehen davon, dass ETCS ursprünglich für den grenzüberschreitenden Fern- und Güterverkehr, weniger für den Regionalverkehr und schon gar nicht für S-Bahn vorgesehen war, für die zuerst noch Regelwerke entwickelt werden müssen. Bis heute gibt es noch keine Zulassung eines ETCS für ein S-Bahn-Netz.
[Folie 26]
- Abhängigkeiten zum Projekt „Stuttgart 21“ bedingen Grundsatzentscheidung zur Umsetzung des ETCS/DSTW-Pilotprojekts (Infrastruktur + Fahrzeuge) bis Ende des Jahres 2018
- Investitionsvolumen der Bausteine 1 und 2 des ETCS/DSTW-Pilotprojekts in der Region Stuttgart beträgt ca. 600 bis 650 Mio. Euro
Kommentar/Frage: der VRS als Aufgabenträger der S-Bahn-Stuttgart will unabhängig vom ETCS-Pilotprojekt kurzfristig bis zu 50 neue S-Bahn-Züge bestellen, um auch die Zwischentaktzüge als Langzug behängen zu können. Kosten ca. 10 Mio Eur pro Zug, d.h. bis zu 500 Mio Eur. Für Fahrzeuge gibt es nach derzeitiger Rechtslage keinen Zuschuss vom Bund aus Haushaltsmitteln, der allerdings im Rahmen des Projekts 'Digitale Schiene' eventuell einen Zuschuss zur Umrüstung der Fahrzeuige auf ETCS geben könnte. Ob eine solche Zusage innerhalb von 1-2 Monaten möglich ist, darf bei dem üblichen ‚behördlichen Schwergang' bezweifelt werden.
Kommentar: Soll auf diesem Wege eine erneute markante S21-Kostenerhöhung verborgen bzw. versteckt aus anderen Finanztöpfen finanziert werden. Hier scheint eine warnende Information an den Bundesrechnungshof angebracht. - Bundesfinanzierung zwingend erforderlich. Klärung bis Ende 2018.
- Für Unbedenklichkeitsbescheinigung (vorzeitiger Baubeginn) oder Auszahlung von Bundesfinanzmitteln fehlen die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen
[Folie 27]
„Ohne haushaltsrechtliche Lösung greifen folgende Mechanismen:
- Warten auf spätere Positionierung des Bundes führt direkt zu einer späteren Inbetriebnahme des Projekts „Stuttgart 21“ → nicht vermittelbar!
- Ausbleibende Signalwirkung zum bundesweiten ETCS- und DSTW-Rollout
- Ausstattung des Projekts „Stuttgart 21“ mit veralteter Signaltechnik
- Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in der Region Stuttgart für die nächsten 20 Jahre gestoppt“
Kommentare:
Ziffer (1) sagt genau genommen doch: Die bisherige S21-Planung und –Finanzierung war gar nicht gesichert, weil sich der Bund noch nicht zu ETCS positioniert habe, obwohl dieses System seit vielen Jahren als feste Komponente von S21 verkauft wurde. Nun drohe sich S21 zu verzögern, wenn jetzt eine Grundsatzentscheidung zur Umsetzung des ETCS-/DSTW-Pilotprojekts nicht kurzfristig getroffen werde. Diese Aussagen verwirren und irritieren vollständig. Haben der Bund, die Deutsche Bahn und das EBA komplett „geschlafen“, und hat es auch in Baden-Württemberg niemand bemerkt?? So muss doch angenommen werden, dass eine S21-Inbetriebnahme 2019 bis 2022 nie hätte gelingen können, weil die Voraussetzungen für die existenziell wichtige Leit- und Sicherungstechnik und die Ertüchtigung der Stellwerke anscheinend nie geschaffen waren und bis heute nicht geschaffen sind. Ist das noch zu fassen?
Ziffer (3) scheint zu sagen, dass ohne die genannte kurzfristige Grundsatzentscheidung S21 mit Konventioneller Signalisierung, d.h. Punktförmiger Zugbeeinflussung (PZB) und Kombinationssignalen (Ks-Signale) zum Laufen gebracht werden müsse. PZB mit Ks-Signalisierung heute als „veraltete Signaltechnik“ abzuqualifizieren, ist schon verdammt starker Tobak. Es wird noch für eine sehr lange Zeit Tausende von Bahnkilometern geben, die mit dieser Bahntechnik bestens bedient und gesichert sind.
Ziffer (4) prognostiziert für die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in der Region Stuttgart quasi einen kleinen Weltuntergang. Warum sollte Stuttgart gleich um 20 Jahre zurückgeworfen werden, wenn z. B. das ETCS-/DSTW-Pilotprojekt an anderer Stelle stattfinden sollte? Warum sollte Stuttgart z.B. nicht an zweiter Stelle im bundesweiten Rollout bedient werden können? Wie ist es mit solidem, qualifiziertem Projektvorgehen zu vereinbaren, die ETCS-Einführung ausgerechnet an einer die schwierigsten und sensibelsten Stelle, der S-Bahn Stuttgart, mit einer Pilotierung zu beginnen? Letzteres stellt auch (und möglicherweise erneut) in Frage, ob McKinsey im Eisenbahnwesen realistisch seriöse Vorgehensberatung zu bieten hat.
In einer Pressemitteilung vom 27.11.2018 des Staatsministeriums Baden-Württemberg mit dem Titel →Landeskabinett befürwortet Pilotprojekt zur elektronischen Zugsteuerung in der Region heißt es:
Das Verkehrsministerium soll Finanzierungsverhandlungen mit den Partnern Bund, Deutsche Bahn Netz AG und Verband Region Stuttgart aufnehmen.
„Die Digitalisierung der Schiene ist das Gebot der Stunde. Der Schienenverkehr muss stabilisiert und ausgebaut werden“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Verkehrsminister Winfried Hermann erklärte: „Wir brauchen die neue elektronische Zugsteuerung ETCS, damit die Fahrpläne stabil eingehalten werden und mehr Angebote auf der Schiene möglich sind.“ und „Die Verzögerungen beim Rohbau des Projekts ‚Stuttgart 21‘ eröffnen uns nun ein einmaliges und kurzes Zeitfenster, um den Schienenknoten Stuttgart als ersten großen Bahnknoten in Deutschland vollständig mit ETCS und DSTW auszurüsten.“ und „Aufgrund der immensen Abhängigkeiten zum Projekt „Stuttgart 21“ und der aufwändigen ETCS-/ATO-Nachrüstung der betroffenen circa 400 Schienenfahrzeuge verbleibt für die Entscheidung zur Umsetzung des Pilotprojekts nur Zeit bis Ende Januar 2019.
Weitere Informationen gibt es auf der Webseite des Verkehrsministeriums Baden-Württemberg unter →Digitalisierung.
Unser abschließender Kommentar:
Es ist kaum zu glauben, was die Deutsche Bahn und die Politik auf allen Ebenen verkünden: Wenn in den nächsten 3 Wochen nicht die Grundsatzentscheidung fällt, das ETCS-/DSTW-Pilotprojekt in der Region Stuttgart durchzuführen, wird sich Stuttgart 21 verzögern oder muss mit (vermeintlich) veralteter Signaltechnik ausgerüstet werden. Da ruft der Bund nach jahrelangem Schweigen und Zaudern die bundesweite Strategie ‚Digitale Schiene‘ aus, und schon rennt man los und will sich Hals über Kopf für ein in seiner Komplexität kaum zu übertreffendes Pilotprojekt entscheiden. Hier drängt sich der Vergleich zum Rennfahrer auf: Er gibt Vollgas, kennt aber die Strecke noch nicht.
Und dieses Pilotprojekt soll nicht etwa auf überschaubarem und unempfindlichem Terrain stattfinden, wie es bei solidem, qualifiziertem Projektvorgehen üblich wäre, sondern ausgerechnet mit dem finanziell und planerisch notleidenden Projekt Stuttgart 21 gemeinsam mit der höchst störungsempfindlichen Stuttgarter S-Bahn - im Klartext: unter Extrembedingungen. Dann hört man noch von einem weiteren ETCS-Pilotprojekt bei der Hamburger S-Bahn und fragt sich, wie zwei zeitlich parallel verlaufende Pilotprojekte in Einklang zu bringen sind.
Hier staunt man nicht mehr, sondern hier packt einen das Grausen ob dieser Vorgehensweise, die einem auch noch als Innovation verkauft werden soll. Wenn dieses Vorgehen auf einer Empfehlung von McKinsey beruhen sollte, stellt sich (möglicherweise erneut) die Frage, ob McKinsey im Eisenbahnwesen realistisch seriöse Vorgehensberatung zu bieten hat.
Und dann hat uns - als ob es noch immer nicht genug wäre - von anderer (üblicherweise gut informierter) Seite die Information erreicht, dass es womöglich technische Verträglichkeitsprobleme zwischen einer Installation von Ks-Signalisierung und der parallelen ETCS-Installation geben könnte und es deswegen nicht mehr sicher sei, dass auf der S-Bahn-Stammstrecke eine Ks-Signalisierung zusätzlich installiert werden könne. Wir nennen diese Information mit allem Vorbehalt, denn sie muss noch auf Hintergründe und Verlässlichkeit überprüft werden. Für den Fall, dass sie zutrifft, hat unser Hans Jörg Knapp die richtige Bewertung formuliert: „ETCS in der S-Bahn (also ein Pilotprojekt) ohne parallele Ks-Signalisierung als Rückfallposition wäre krass unverantwortlich.“