ETCS - die digitale Wundertüte?

Angeregt durch die DB-Initiative '#Digitale Schiene' wurde das Thema ETCS (European Train Control System →Wikipedia) auch bei der →Lenkungskreissitzung zu Stuttgart 21 am 5.11.2018 intensiv diskutiert. Verspricht sich doch der Projektpartner Verband Region Stuttgart (VRS) durch die Einführung von ETCS praktisch die Lösung aller Probleme, die derzeit die S-Bahn Stuttgart plagen. →Nur ETCS-Folien (29-34) aus der DB-Präsentation.

In der Wochenzeitung KONTEXT vom 14.11.2018 findet sich ein lesenswerter Artikel von Oliver Stenzel mit dem Titel ‚Digitale Wundertüte' u.a. zu den angeblichen Kapazitätsgewinnen von ETCS, die sich seiner Meinung nach eher in Kapazitätseinbußen auswirken, wie Erfahrungen aus der Schweiz zeigen.

Die Erkenntnisse haben eine heftige Diskussion hervorgerufen. So schrieb der ehemalige Bundesbahndirektor E. Happe, der bei der 'Stuttgart 21-Schlichtung' im Sommer 2010 als Sachverständiger auftrat:

Endlich mal was Konkretes zu ETCS. Aber es ist viel schlimmer als dargestellt. Ich müsste einen fast ebenso langen Aufsatz schreiben um alle Aspekte zu erfassen; aber ich bin ein alter, müder Mann und habe wahrlich keine Lust, den ETCS-Wahnsinn auch noch argumentativ aufzuwerten. Deshalb nur einige Punkte:

  1. Es ist ein frommer Irrglaube, man käme pro Zuggarnitur mit einer ETCS-Fahrzeug-Anlage aus. Der ETCS-Zentralrechner muss immer mit dem führenden Fahrzeug kommunizieren und dafür muss mindestens das Kommuniktionsteil der ETCS-Anlage an beiden Zugenden installiert sein.
  2. Es ist ein frommer Irrglaube, ETCS könne ohne jegliche Redundanz alle betriebsführungs- und sicherheitstechnischen Probleme schneller und besser lösen, als die in Jahrzehnten bewährte redundante Betriebsführungs- und Sicherungs-Technik mit der ETCS nicht kompatibel ist, und die deshalb über Jahre hin Doppelinvestitionen bei den Triebfahrzeugen notwendig macht.
  3. Wenn Herr Thomas Bopp als politischer Schnellversteher meint, die S-Bahn Stuttgart könne durch ETCS leistungsfähiger - natürlich mit Bundesknete versteht sich - gemacht werden, so jagt er einer Schimäre nach. Ich würde ihm ja gern auf die Sprünge helfen; aber dazu müsste er erst bereit sein, sich helfen zu lassen. Z.B. so:
    Es ist ein Irrtum, dem fast alle anhängen, die mit aktueller Eisenbahn-Personenverkehrs-Politik befasst sind: Für den Personen-Schnellverkehr ist die LZB (→Linienzugbeeinflussung) - trotz verbreiteter gegenteiliger Ansicht - keine notwendige Bedingung! Ganz im Gegensatz zum Personen-Schnellverkehr kann die LZB im S- und U-Bahnverkehr dazu beitragen, die Zugfolgezeiten - wenn auch nur im niedrigen einstelligen Minutenbereich zu verkürzen und zwar wesentlich effektiver als es ETCS kann. Beim von mir schon wiederholt als Musterbeispiel herangezogene 'Sky-train' in Vancouver kann einem am Bahnsteig haltenden Zug ein nachfolgender Zug bis an den Bahnsteiganfang - d.h. bis auf wenige Meter - folgen. Der Clou bei der denkbaren LZB-Installation in Stuttgart ist folgender: Die Fahrzeugausrüstung ist deutlich billiger und man braucht die LZB-Streckenausrüstung lediglich im Bereich Bad Cannstatt - Feuerbach - Schwabstraße.

Einer aus dem Kreis der Ingenieure22 schrieb:

Auf der Innotrans hatten wir ein ausführliches Gespräch mit einem Instruktor, der uns erklärte, was es mit den Kapazitätseinbußen durch ETCS auf sich hat. Es gibt zwei Szenarien:

  1. In der Theorie können dank ETCS die Zugfolgeabschnitte verdichtet werden, so dass mehr Züge auf eine Strecke gleicher Länge passen. Dies führt zunächst zu einer Kapazitätssteigerung zu folgendem Preis: (a) die Geschwindigkeit richtet sich nach dem schwächsten Glied und nach der ETCS-Bremskurve, die dem Zugfolgeabstand entspricht und die kontinuierlich überwacht wird. Aber wehe, (b) es muss einer anhalten.....
  2. In Systemen, in denen mit ETCS-Überwachung angehalten werden muss, verbleibt dem Lokführer durch ETCS, das eine höhere Sicherheit als die Punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) implementiert, weniger Handlungsspielraum. Es muss zum Halten früher mit der Bremsung begonnen werden, was die Anfahrt an einen Bahnsteig verlangsamt. Diese Komponente wirkt kapazitätsmindernd. Hierin stecken nach Aussage des Instruktors Einbußen von ca. 10% gegenüber dem klassischen System. Je schwerer ein Zug ist und je schlechter er bremst, umso höher werden diese (also extrem, wenn schwere Güterzüge beteiligt sind).

Ein weiteres Mitglied der Ingenieure22 schrieb dazu:

  1. Zugsicherungssysteme dienen der Sicherheit, nicht der Leistungssteigerung. Mehr Sicherheit UND mehr Leistungsfähigkeit geht nur mit DEUTLICH höheren Kosten (also nicht nur mit den Kosten für das Mehr an Sicherheit).
  2. ETCS ist funktional dem LZB sehr ähnlich. Was LZB kann, kann auch ETCS. Umgekehrt kann ETCS nicht viel mehr als LZB.
  3. ETCS ist ein europaweit standardisiertes System. Daher gibt es auf europäischer Ebene Vorgaben und Gesetze die eine Ausrüstung bestimmter *Strecken* fordern. S-Bahn-Strecken gehören nicht dazu. Dennoch ist die Migration von LZB zu ETCS ein prinzipiell vernünftiges Fernziel.
  4. Dass eine Umstellung von Indusi/PZB bzw. LZB nach ETCS bei einem Infrastrukturunternehmen nicht ganz reibungslos abläuft, kann man sich vorstellen. Überhaupt wenn man bedenkt, dass bei der DB immer noch eine sehr große Zahl mechanischer Stellwerke im Einsatz sind.
  5. Es ist wenig sinnvoll, Zugsicherungssysteme nach „Leistungsfähigkeit" zu vergleichen.
  6. Zu LZB-Zeiten war die Computertechnik derart neu und einschränkend, dass man froh war, die eigentliche Sicherungsfunktion zu realisieren. Dadurch, dass ETCS kaum oder keinen Sicherheitsgewinn zu LZB (oder z.B. zu TVM in Frankreich) bringt, wird gegenüber den Betreibern immer so getan wie wenn sich durch ETCS betrieblichen Vorteile ergäben - im Hinblick auf die permanente Kommunikation über GSM-R und die heutigen Möglichkeiten durch die Computertechnik.
  7. Die Verwendung von LZB (oder ETCS) ist im Personenschnellverkehr (in Deutschland) sehr wohl eine Bedingung. →Indusi (Induktive Zugsicherung) ist nur bis 160km/h erlaubt, und das auch nur mit 2 Tf (Triebfahrzeugführer) auf dem Führerstand. In anderen Ländern gelten andere Regeln.

Résumé

  • ETCS ist für Neubaustrecken vorgeschrieben, insofern macht es durchaus Sinn, darüber nachzudenken, ob nicht auch Bestandsstrecken Zug um Zug damit ausgerüstet werden sollten, um schließlich ein einheitliches System zu haben.
  • ETCS funktioniert aber nur durchgängig, wenn auch das auf diesen Strecken verkehrende Zugmaterial vollständig mit ETCS ausgerüstet wird. Ansonsten muss auch die bisherige Technik (PZB bzw. LZB) zur Verfügung gestellt werden.
  • ETCS bringt keine Vorteile gegenüber konventionellen Systemen, die bedarfsweise mit wesentlich geringerem Investitionsaufwand punktuell ertüchtigt werden können. 
  • Obwohl sich Medien und Politik an den Strohhalm ETCS klammern, sind von ETCS keine Wunder für zusätzliche Systemreserven zu erwarten, was die heute am Leistungsmaximum betriebenen Strecken des öffentlichen Nahverkehrs angeht.
  • ETCS ist vor allem anderen ein gewaltiges Investitionsprogramm für die Bahnwirtschaft mit zweifelhaftem Nutzen für den öffentlichen Nahverkehr.