Pressemitteilung: ZDFinfo „Murks in Germany - Warum Großprojekte scheitern.“

Pressemitteilung der Ingenieure22 vom 24.10.2020

ZDFinfo „Murks in Germany. Warum Großprojekte scheitern.“ rückt Mängel, Kosten- und Verzögerungtreiber von Stuttgart 21 in ein falsches Licht.

Am Freitagabend wurden auf ZDFinfo zwei Dokumentationen (1) gezeigt, die die Schwierigkeiten von Großprojekten in Deutschland zum Thema hatten. Ganz grundsätzlich begrüßen Ingenieure22 die Vorhaben, Licht in das offensichtliche Dunkel von fehlgeplanten Großprojekten mit explodierenden Terminverzögerungen und Kosten zu bringen. Spätestens seit Elbphilharmonie, BER-Flughafen und Stuttgart 21 ist in der Bevölkerung massive Kritik laut geworden, die sich teilweise bis tief in die Planungsebene der Projekte einmischt.

Bezogen auf Stuttgart 21 müssen wir jedoch feststellen, dass den Autoren nur ein sehr schemenhaftes Bild der Fehlleistungen in diesem Projekt gelungen ist. Die in den Filmen befragten Spezialisten kennen sich offensichtlich wenig in dem Projekt Stuttgart 21 aus, so dass allenfalls Gemeinplätze bezüglich der Probleme zu erwarten waren. Schlimmer noch, dadurch, dass einige der Protagonisten des Projekts zu Wort kommen, die keinerlei Interesse daran haben, dass die Probleme bei Stuttgart 21 offen kommuniziert werden, wird von den Fehlern bei Stuttgart 21 ein völlig verzerrtes Bild gezeichnet.

So kommt es, dass wir am Ende der ersten Sendung schon ein gern aus Bahnkreisen vorgezeichnetes Bild von den Kosten- und Verzögerungstreibern im Projekt haben: Florian Bitzer nennt als Beispiel für die Kostentreiber die Umsiedlung der Eidechsen, wobei allerdings die durch die Eidechsen verursachten Aufwendungen von 15 Millionen in Anbetracht der Preissteigerungen von 2,6 auf 8,2 Milliarden Euro bar jeder Relevanz sind. Dennoch wird der Bund der Steuerzahler als Zeuge für „den Naturschutz als großen Kostentreiber“ zitiert, der bestätigt, dass „die Verhältnismäßigkeit für Umweltaufwendungen nicht immer gegeben ist“. Es kommt sogar noch schöner: Weil zu Beginn der Planungen der Umweltschutz noch nicht so en vogue war, waren Kostensteigerungen zu erwarten. Wenn es doch so einfach wäre.

Geradezu verzerrend wird der Einfluss des Juchtenkäfers auf das Projekt dargestellt. Zweijährige Umplanungen hätte das unerwartete Auftreten dieser streng geschützten Art ausgelöst – was nicht gesagt wurde, ist, dass es nur einen geradezu winzigen Teil des Projekts betraf und die Arbeiten sonst ungehindert weiterliefen. Ein ordentliches Risikomanagement hätte auch diese Probleme einbezogen. Stattdessen hat man z.B. nach der Schlacht am 30.9.2010 nachts um 00:00 am 1.10.2010 mit Beginn der Winterperiode mit der Fällung von Bäumen mit Verdacht auf Juchtenkäferpopulationen begonnen und diese gleich in Großhäckslern verschwinden lassen, um jeden Beweis zu vernichten. Die zeitlichen Verzüge sind allein im Projekt selbst zu suchen, in einer zu großzügigen Planung, in der der Stadtgesellschaft vorgegaukelt wird, mit der unbequemen Baustelle mitten im Herzen der Stadt schnell fertig zu werden. Um es auf einen Nenner zu bringen, wir hatten bis 2018 7 Jahre lang konstant 7 Jahre Restbauzeit. Der Nesenbachdüker, der im Juni 2013 hätte der Stadt übergeben werden sollen, wurde erst vor kurzem fertiggestellt, mehr als 7 Jahre später.

Einen weiteren Fehler glaubt man ausgemacht zu haben, weil man mit dem Bauen im Anhydrit absolutes Neuland betreten hätte. Bisher ist die Bahn jeden Beweis schuldig geblieben, dass das der große Kostentreiber sei, zumal man von Anfang an aus Kreisen der Kritiker darauf aufmerksam gemacht wurde, was in einem ordentlichen Risikomanagement als Kosten hätte eingeplant werden müssen. Bent Flybjerg, der solche Großprojekte an der Universität Oxford erforscht, sagt an anderer Stelle (Rastatt) sehr richtig, dass man Neuland nur dann betreten solle, wenn es absolut keine Alternative gibt. Ungesagt im Film blieb, dass das Bauen im Anhydrit unter anderem auch deswegen durchgeführt werden sollte, weil sich die Tunnelbauer davon weitere Aufträge versprechen. Erforschung am lebenden Objekt Stuttgart. Aus der Tallage der Stadt Stuttgart und der Geologie der umliegenden Berge ist ein Kopfbahnhof auch in Zukunft die vernünftigste Lösung.

Stuttgart 21 ist von den Kosten her am absolut untersten Rand angesetzt worden, um es über die politischen Hürden zu heben. Die Kostensteigerungen waren zu erwarten, das beweisen etliche Kostenprognosen vor und während der Projektdurchführung, vom Bundesrechnungshof und Vieregg & Rößler (2008), von Ingenieure22 und aus dem Verkehrsministerium (2013), von Vieregg & Rößler (2015) und erneut vom Bundesrechnungshof (2016) und nun erneut Kritik vom Bundesrechnungshof (2020). Was häufig nicht kommuniziert wird, ist, dass die Kosten genau dann, wenn politische Entscheidungen anstanden, niedrig gerechnet wurden, um das Projekt über die Hürden zu heben, Anfang 2009 (Finanzierungsvertrag), Ende 2009 (Ablauf der Kündigungsfrist) und Ende 2011 (Volksabstimmung). Diese Vorgehensweise wird zwar im Film genannt, aber nur allgemein, ohne Projektbezug.

Stuttgart 21 ist aus ganz anderen Gründen ein Projekt, das so gar nicht hätte betrieben werden dürfen, weil weder Kosten noch Zeitpläne eingehalten wurden und werden: der Tiefbahnhof und seine in den Anhydrit gebohrten Zulauftunnel werden ein brandgefährliches Nadelöhr im Verkehrsknoten Stuttgart sein und bleiben, für alle Zeiten. Selbst kostenträchtige Nachrüstungen in den Zulaufstrecken, die der Kopfbahnhof sofort zu höherer Leistung hätte umwandeln können, werden allenfalls den Tiefbahnhof auf die Leistungsfähigkeit des alten Kopfbahnhofs bringen. Diese Nachrüstungen hätten für weitaus weniger Geld den Knoten mit einem Kopfbahnhof so aufgewertet, dass auch für die nächsten 100 Jahre und darüber hinaus ein leistungsfähiger Knoten Stuttgart mitten in der Großstadt gesichert gewesen wäre.

Während man Probleme beim Projekt Stuttgart 21 durch Abschnittsbildung und Teilung ausgliedert, schlägt man (auch im Film) die Fahrzeitgewinne der Neubaustrecke ungeniert dem Projekt Stuttgart 21 zu, wohlwissend, dass man beide Projekte sehr wohl unabhängig voneinander realisieren könnte. Auch müssen wir dem Eindruck entgegentreten, dass in den derzeit genannten 8,2 Milliarden Euro die 3 Milliarden der Neubaustrecke enthalten wären, mitnichten. Die 8,2 Milliarden sind ausschließlich für die Verschlimmbesserung des Stuttgarter Knotens aufzuwenden. Es ist zu befürchten, dass 10 Milliarden nicht reichen werden, diese unausgegorene Lösung fertigzustellen.

In einem bemerkenswerten Interview auf SWR-Eisenbahn-Romantik (2) sagt der Verkehrswissenschaftler Prof. Hohnecker, dass er einem Studenten, der ihm so eine Planung wie S21 vorgelegt hätte, die Gelegenheit gegeben hätte, noch einmal von vorne anzufangen. Alle Gutachten der Kritiker wurden ignoriert und teilweise lächerlich gemacht. In den Sendungen „Murks in Germany“ wurde deutlich gesagt, dass man Kritiker von Anfang ernst nehmen und deren Argumente sorgsam prüfen müsse, noch bevor ein Projekt (angeblich) unumkehrbar geworden ist und mit vordergründigen Aussagen (z.B. zu großer Nutzen, unrealistisch geringe Kosten und Bauzeiten) die parlamentarischen Hürden genommen hat.

Gerade sehr komplexe Bahnprojekte müssen in ihren Grundzügen vollständig durchgeplant sein. Es geht nicht, sie in Planfeststellungsabschnitte zu unterteilen, die voneinander abhängig sind. Eine Autobahn kann man unterbrechen, eine Bahntrasse nicht. Das sieht man z.B. jetzt beim Filderabschnitt, noch schlimmer, man teilt nachträglich einen PFA in zwei Teile auf, weil man mit den Problemen des einen nicht fertig wird, Jahre nach Baubeginn. So verschiebt man die Inbetriebnahme des Projekts auf den Sankt Nimmerleinstag und nimmt Bauruinen in Kauf.

Die Elbphilharmonie ist in Betrieb, der BER steht vor der Inbetriebnahme, S21 ist davon noch weit entfernt, die Planung bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Und es ist ausgesprochen fraglich, ob eines Tages auf überfüllten Bahnsteigen das Gefühl einer wunderbaren Verkehrskathedrale den Ärger über verlorene Anschlüsse, mangelhaften Deutschlandtakt und schlimmer noch, mangelhaften Katastrophenschutz überwiegt.

(1) https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/murks-in-germany-warum-grossprojekte-scheitern-100.html
(2) https://www.swrfernsehen.de/eisenbahn-romantik/folgen/baustelle-bahn-artikel-100.html


V.i.S.d.P.  Ingenieure22, c/o Dipl.-Phys. Wolfgang Kuebart